Ich saß einfach da und wartete. Die Uhr tickte. Der Abstand zwischen den Geräuschen schien immer gleich lang zu sein. Mein Herz schlug nicht so schnell wie die Uhr tickte. Aber vielleicht tickte ich auch nicht richtig. Ich überprüfte meinen Puls und lauschte auf meinen Atem. Offenbar war ich noch lebendig, auch wenn meine Haut sehr blass geworden war. Das kam von dem Schreck, der mir durch die Glieder fuhr, als er mich in dieses Verlies gesperrt hat. Ich weiß nicht, was er mit mir vorhat. Jedenfalls muss ich mir keine Gedanken mehr um meine Zukunft machen. Ich fürchte mich nicht mehr vor einem Leben in Armut, das mir bevorstehen würde, wenn er mich am Leben ließ. Sicher hat er das Messer schon geschliffen, mit dem er mir die Kehle durchschneiden will. Ich habe beschlossen, mich dem Tod ganz einfach hinzugeben. Nichts leichter als das. Der Tod hat mich schon oft an der Gurgel gehabt und war jedes Mal erstaunt darüber, wie entspannt ich war. Ich überließ mich seinen starken Armen und wenn er dachte, er hätte leichtes Spiel mit mir, bin ich ihm doch noch entwischt. Eigentlich will ich gar nicht sterben. Aber das Leben erscheint mir manchmal so kompliziert, dass ich denke, es wäre einfacher, mich dem Tod zu überlassen, anstatt weiter zu kämpfen. So auch jetzt hier. Ich höre seine schlurfenden Schritte im Flur. Eine Kette rasselt. Ich habe es vermasselt und der Geschichte eine andere Richtung gegeben. Sie zielt nicht mehr auf Abschied und Tod und ein nahendes Ende. Nein, sie zielt ab auf ein Weiter so! Mach es gut! - und - Du schaffst es! Ich springe auf und haue ihm den Holzklotz, den ich in einer Ecke des Bunkers gefunden habe, gegen den Schädel. Er blutet und fällt um. Seine Ketten klirren. Ich nehme die Ketten und rolle ihn darin ein, zurre sie fest, verpacke dieses fette Schwein wie ein Rinderroulade. Dann lache ich und pisse auf ihn. Er muss mir büßen, was alle mir angetan haben. Dann furze ich noch kurz und mach mich auf den Weg. Irgendwie muss ich ja hier wieder raus kommen. Die Türe fällt hinter mir laut ins Schloss. Ich stecke den Schlüssel in das Schlüsselloch und drehe ihn herum. So. Das hat er jetzt davon. Wer andern eine Grube gäbt fällt selbst hinein. Der Schlüssel hängt an einem großen Ring aus Metall, an dem noch viele andere Schlüssel hängen. Also muss es auch viele Türen geben. Hoffentlich verlaufe ich mich nicht. Das wäre mal wieder typisch für mich. Die Schlüssel für die Freiheit in der Hand, aber zu blöd, um den Weg hinaus zu finden. Ich steige die Treppen hinauf. Wendeltreppen. Immer im Kreis aufwärts aufwärts. Mir wird ganz schwindlig. Ich beginne zu rennen. Immer im Kreis. Immer im Kreis. Fledermäuse flattern auf und bringen meine Frisur durcheinander. Den letzten Friseurtermin habe ich verpasst. Aber auch das ist gelogen, denn ich gehe schon jahrelang nicht mehr zum Friseur sondern schneide mir die Haare selber mit einer Nagelschere, die ich im Müll gefunden habe. So fing überhaupt alles an: Ich lief auf dem schmalen Weg durch den Vorgarten an den süß duftenden Rosen vorbei, um den Abfall in den Mülleimer zu werfen. Als ich den quietschenden Deckel des Eimers anhob, entdeckte ich in einer Ecke meine Nagelschere. Er muss sie mir entwendet und in den Müll geworfen haben. Ich stellte die Plastiktüte mit dem Müll neben den Eimer und streckte meine Hand nach der Nagelschere aus. Dazu musste ich meinen Arm ganz lang machen und mich tief in den Mülleimer hineinbeugen. So tief, dass ich das Gleichgewicht verlor und in den Eimer hineinplumpste. Der Deckel klappte über mir zu und ich saß im Dunklen, hatte aber meine geliebte Nagelschere wieder in der Hand. Trotzdem saß ich in der Falle. Ich spürte, wie der Eimer gekippt wurde und jemand mich schnell durch die Gegend rollte. Was heißt jemand. Er natürlich. Diese Ausgeburt der Hölle, mit der ich seit 60 Jahren verheiratet bin. Er lässt keine Gelegenheit aus, mich zu demütigen und ich muss ständig auf der Hut sein. Mit seinen galoppierenden Schritten rollte er den Mülleimer die Straße entlang, wohl wissend, wer sich darin befand. Galoppierend und kichernd rollt er mich die Straße hinab und in seine Festung hinein, in der all seine Geheimnisse vergraben sind. Und ich kenne einige davon, großer Gott! Er hat mich schon oft in seiner Burg eingesperrt. Sechzig Jahre sind eine verdammt lange Zeit und es gibt viele Gelegenheiten, sich aneinander zu rächen und übereinander herzufallen. Am meisten hasse ich die Stille in seiner Burg. Es ist eine knisternde Stille wie unter einem Hochspannungsmast unter dem man vor einem Gewitter Zuflucht gesucht hat. Die Haare stehen einem zu Berge und man denkt, dass an dem Ort, an dem man Sicherheit und Frieden gesucht hat, nichts als lauter Hass zu finden ist. Dabei waren wir mal ein Liebespaar. Wir sind beide jung und hübsch gewesen. Wir rochen gut und die enge Kleidung, die wir in kleinen Modegeschäften kauften, stand uns ausgezeichnet und machte uns sexy. Die Leute starrten uns auf den Hintern, wenn wir an ihnen vorbeigingen. Natürlich genossen wir das. Wir waren jung und dachten, das würde ewig so weitergehen. Ich hatte ein Tattoo auf meinem Busen und jeder Mann und manche Frau hätte gern ihre Nase unter meine Achsel geschoben. Nun ist das alles vorbei und in der Stille unserer alten Tage verfolgen wir uns gegenseitig und missgönnen dem anderen jeden Funken Freude. Am oberen Ende der Wendeltreppe befindet sich ein Fenster. Dort sitze ich gerne und lasse mein kurzes Haar herunterfallen wie Rapunzel. Ich werfe die mit der Nagelschere geschnittenen Strähnen in die untergehende Sonne und schaue traurig ihrem versickernden roten Licht hinterher. Die Abendstille brandet an mein Herz und lässt es zu Eis gefrieren. Ich höre seine klirrenden Ketten. Der alte Rollmops hat sich befreit und humpelt nun die Treppen zu mir herauf. Jeden Abend dasselbe Ritual. Wir spielen ein Spiel. Wie die Kinder lieben wir es, immer das gleiche zu tun, spüren genussvoll, wie immer die gleichen Furchen in unser Nervensystem gebahnt werden. Nervenbahnen, die jeden Tag dicker werden. „Komm her, mein Dicker!“ sage ich zu ihm. „Komm her, mein graues Strähnchen!“ sagt er zu mir. Wir halten uns aneinander fest und schauen in die Dunkelheit hinaus, die unsere Festung nun umhüllt. Alt werden kann grausam sein. Aber wir versüßen uns unsere Tage mit Hetzjagden, die uns helfen, die Stille zu vertreiben. Dabei liegt in der Stille verborgen das große Geheimnis, vor dem wir uns so sehr fürchten und das früher oder später doch unaufhaltsam vor uns stehen wird. Ich mag es nicht Tod nennen. Es ist die Konfrontation mit der letzten Wahrheit. Plötzlich sieht man alles so, wie es wirklich war und so, wie es wirklich ist. Dann kommt das große Erschrecken vor dem fast alle erblassen: dass man sieht, wie die anderen alle sich gefühlt haben durch das, was man getan hat, ohne zu bemerken, wie es ihnen dabei ergangen ist. Immer zu schnell an allem vorbei. Stets nur oberflächlich den Zielen hinterher, die man sich gesetzt hat. Wenn man dann zurückschaut, von hier oben den im Wind wehenden Strähnen hinterher blickt, erkennt man erst, wie viel man versäumt hat an Nähe und Glück und Gemeinschaft mit anderen Menschen. Die Stille ist ein grausamer Lehrer. * "Oh welch verworren Netz wir weben, wenn wir nach Trug und Täuschung streben." (Sir Walter Scott) *
Die Stille ist ein grausamer Lehrer
Veröffentlicht in Pencildance.